Langsam dämmert es den Briten, was sie mit ihrem „Ja“ zum Brexit angerichtet haben. Nur wenige Minuten nach dem Bekanntwerden des Ergebnisses hat Nigel Farage, der Anführer der EU-Gegner, im Fernsehen verkündet, dass er gar nicht daran denke, zentrale Versprechungen umzusetzen. Er grinste selbstzufrieden und erklärte dem entsetzten Publikum, dass man die Bevölkerung eiskalt verarscht habe. Man werde entgegen aller Ankündigungen die EU-Mitgliedsbeiträge natürlich nicht ins Gesundheitssystem umleiten. Migranten werde man auch weiter ins Land lassen müssen, da man ja als Ersatz für die EU dem EWR beitreten wolle, und der schreibt für seine Mitgliedstaaten vor, EU-Bürgern Arbeits- und Niederlassungsfreiheit zu gewähren. Ohne Mitgliedschaft im Europäischen Wirtschaftsraum würde Großbritannien binnen weniger Jahre zum Armenhaus Europas werden, da die gesamte Exportwirtschaft zusammenbrechen würde. Die Briten kapieren jetzt, dass sie alle Vorschriften der EU weiterhin umsetzen werden müssen, aber kein Mitspracherecht bei der Gestaltung dieser Vorschriften mehr haben. Große Konzerne wie Fiat haben unterdessen angekündigt, ihre Produktionsstätten abzuziehen, was tausenden Briten ihre Jobs kosten wird. Immer mehr Briten sehen, dass sie nicht für mehr Unabhängigkeit gestimmt haben, sondern für den Gang ihres Landes in die Bedeutungslosigkeit – und vielleicht sogar für das Ende des Vereinigten Königreichs, denn die Schotten wollen bereits einen neuen Anlauf zur Unabhängigkeit machen.
Vielleicht kommt doch noch alles ganz anders, vielleicht bleiben die Briten doch in der EU? Die Abstimmung zum „Brexit“ brachte keine überwältigende Mehrheitsentscheidung. 51,9 Prozent stimmten beim Referendum für einen Ausstieg aus der EU, 48,1 Prozent dagegen. Ganz Schottland stimmte gegen einen Ausstieg. Die jungen Wählerinnen stimmten mit großer Mehrheit für die EU. Ist es wirklich in Ordnung, dass eine knappe Mehrheit in einer so weitreichenden Frage gegen den Willen einer knappen Minderheit entscheiden kann? Ist es vertretbar, dass die Alten einfach gegen die Zukunftschancen der Jungen stimmen? Können die Engländer einfach die Schotten überstimmen? Hier geht es ja nicht um einen Bundespräsidenten oder um Lokalpolitik, sondern um eine ganz große Entscheidung, die jahrzehntelang Auswirkungen haben wird, die sich viele noch gar nicht vorstellen können. Jetzt herrscht Panik auf der Insel. Schon hat eine Petition, die eine Wiederholung des Referendums fordert, mehrere Millionen Unterschriften gesammelt. Einige britische Politiker deuten bereits an, dass das Referendum ja gar nicht rechtlich bindend sei und das Parlament die Abstimmung einfach ignorieren könne.
Wie auch immer das ausgeht, eines zeigt sich schon jetzt: In Großbritannien wie auch in anderen Mitgliedsstaaten der EU gibt es eine große Unzufriedenheit mit dem derzeitigen Zustand der Europäischen Union. Ein Ausstieg aus der EU ist aber keine Alternative. Wir leben in einer andern Welt als noch vor 30 Jahren. Inzwischen stehen wir in einem weltweiten wirtschaftlichen Konkurrenzkampf und ehemals arme Länder wie China und Indien sind auf dem Sprung zur ökonomischen und militärischen Weltmacht. Wir haben als Europäer nur dann eine Chance in diesem Konkurrenzkampf, wenn wir gemeinsam auftreten. Zerstören wir die EU, dann werden wir als Kleinstaaten Verträge wie TTIP nicht mehr verhandeln, sondern diktiert bekommen. Geht die EU unter, werden wir nicht mehr Mitbestimmung kriegen, sondern extrem viel weniger. Ohne EU werden nicht mehr wir die Entscheidungen treffen, sondern wir werden die Entscheidungen, die in Washington, Moskau und Peking fallen, einfach abnicken müssen. In Wirklichkeit sind also die EU-Gegner diejenigen, die uns verraten, die uns zu Spielbällen fremder Mächte machen wollen.
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