Ich würde gerne wieder einmal über etwas anderes schreiben, aber an 71 Toten kann man nicht vorbei. 71 Menschenleben, darunter vier Kinder, ausgelöscht in einem Kühllaster. 71 Menschen sind tot, weil sie ein Leben haben wollten. 71 Menschen sind nicht mehr, weil sie vor dem Tod fliehen mussten und diese Flucht in den Tod führte. Weil 71 Tote anklagen, schreibe ich auch heute über Flüchtlinge.
Zwischen Wien und Budapest verkehrt ein Zug. In diesem Zug versuchen Flüchtlinge, von Ungarn nach Österreich zu kommen, doch Patrouillen aus österreichischen und ungarischen Polizisten fischen die Flüchtlinge aus dem Zug und bringen sie zurück nach Ungarn. Wenn man aber nicht legal von einem Land ins andere fahren darf, welche Wahl hat man dann, außer zu Fuß die Grüne Grenze zu überqueren oder einen Schlepper dafür zu bezahlen, einen zu schmuggeln? Und so pfercht man sich in Lastwägen, als wäre man kein Mensch, sondern eine verbotene Ware, und dann kann vieles schiefgehen. Es kann ein Unfall passieren. Die Lüftung kann ausfallen. Eine Panik kann ausbrechen. Und manchmal endet das so wie vor ein paar Tagen auf dem Pannenstreifen einer österreichischen Autobahn, und 71 Menschen werden tot gefunden, ineinander verkeilt wie einst jene Menschen, die man in Viehwaggons deportierte und dort oft elend sterben ließ ohne Wasser und Nahrung.
Jetzt rufen die Politiker nach härteren Strafen für Schlepper, doch das wird solche Tragödien nicht verhindern. Solange es illegal bleibt, Grenzen zu überqueren, wird es auch Leute geben, die damit ein Geschäft machen. Das ist wie mit den Drogen. Wenn es eine Nachfrage gibt, gibt es auch ein Angebot, selbst wenn die Todesstrafe darauf steht. Und je strenger die Strafen sind, desto wahrscheinlicher ist es, dass Schlepper ihre Kunden im Stich lassen, sobald sie Gefahr wittern. Wenn wir nun die Strafen verschärfen, machen wir nichts anderes, als die nächste Katastrophe vorzubereiten. Wir müssen stattdessen einsehen, dass sich Menschen, die zu allem entschlossen und völlig verzweifelt sind, nicht aufhalten lassen. Nicht von Stacheldrahtzäunen, nicht von Mauern, nicht von Grenzkontrollen, nicht von der Polizei und nicht einmal von der Armee. Das mag uns nicht gefallen, aber das ist die Realität.
Und warum wollen die zu uns, nach Mitteleuropa? Weil man dort, wo sie zuhause sind, nicht mehr leben kann. Weil dort Krieg brutalster Art herrscht. Und diese Kriege haben „wir“, also der Westen, mit zu verantworten. Wir haben im Irak, in Afghanistan in Libyen und in Syrien Regierungen beseitigt oder das zumindest versucht, ohne dass wir einen Plan dafür gehabt hätten, was danach kommen soll. Und das ist ein Verbrechen. Wenn ich schon die Regierung eines Landes stürze, dann muss ich dafür sorgen, dass danach ein friedlicher Übergang möglich ist. Hätten die Alliierten nach dem Zweiten Weltkrieg Deutschland und Österreich nicht jahrelang völlig besetzt, hätten wir vermutlich bis heute einen Bürgerkrieg zwischen Nazis, Kommunisten und anderen Gruppierungen. Und das ist in jenen Ländern, aus denen nun die Menschen flüchten, nicht anders. Man nahm billigend in kauf, dass dort extrem grausame Bürgerkriege ausbrechen würden und wundert sich nun darüber, dass die Menschen davor fliehen. Es gibt 71 Gründe, diese Politik gründlich zu überdenken. Es gibt 71 Ankläger, die uns dieses Versagen vorhalten.
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