In der Türkei ist es fast schon so weit, dass es eine Schande ist, frei zu sein und eine Ehre, im Gefängnis zu sitzen. Oppositionspolitikerinnen, Journalisten, Menschenrechtsaktivisten - die Verhaftungswelle trifft immer mehr Menschen, die mit dem Putschversuch nichts zu tun hatten und deren einziges Vergehen es ist, mit Staatschef Erdogan nicht zu 100 Prozent einer Meinung zu sein. Die Regierung lässt Zeitungen zusperren und Sender abdrehen. Als wäre das alles noch nicht schlimm genug, will Erdogan auch noch die Wiedereinführung der Todesstrafe. Das Ziel scheint klar: Man möchte in der Türkei ein autoritäres Regime errichten, eine Art islamische Diktatur mit pseudodemokratischen Versatzstücken. Die EU schaut dem wilden Treiben hilflos zu, woran sie selber schuld ist. Man war unfähig und unwillig, die Flüchtlingskrise auf europäischer Ebene zu lösen und hat sich lieber auf einen Handel mit der Türkei eingelassen. Eine von besseren Politikern regierte Europäische Union würde sagen: „Die Milliarden, die wir dir für das Fernhalten von Flüchtlingen geben, kannst du dir in Zukunft aufmalen, lieber Erdogan. Die geben wir nämlich lieber südeuropäischen Staaten, die dafür Kriegsflüchtlinge und andere Asylbewerber menschenwürdig unterbringen, bis deren Asylansuchen entschieden ist. Danach werden jene, die einen positiven Asylbescheid bekommen haben, unter den Mitgliedsstaaten der EU aufgeteilt und jene, deren Antrag abgelehnt wurde, müssen die Heimreise antreten.“ Wieso das viele Geld in der Türkei besser angelegt sein soll als in Griechenland und Italien, soll mir mal einer erklären. Wäre es nicht wesentlich sinnvoller und auch im Sinne der Flüchtlinge humaner, Südeuropa mit ausreichend Geld und juristischer Infrastruktur auszustatten, um die Aufgabe als Eingangstor oder auch Endstation für Flüchtlinge und Migranten zu übernehmen? Dann wären wir nämlich auch nicht mehr durch Möchtegern-Diktatoren wie Erdogan erpressbar.
Die Vorgänge in der Türkei machen einem wieder bewusst, wie wertvoll eine echte Demokratie ist. In einer solchen muss man keine Angst haben, dass einem die Polizei um fünf Uhr in der Früh die Haustür eintritt und einen ins Gefängnis verschleppt, nur weil man seine Meinung gesagt hat. Und wirklich muss sich außer islamistischen Terror-Sympathisanten, Neonazis und einer Handvoll Linksextremisten bei uns niemand vor dem Staat fürchten. Er geht nur gegen jene vor, die kriminell sind oder die Demokratie abschaffen wollen. Das ist ein großer Fortschritt zu früheren Zeiten und etwas, das wir unbedingt verteidigen sollten. Statt politische Gegner zu verfolgen oder gar auf sie zu schießen, redet man bei uns miteinander und findet danach einen Kompromiss. Das mag nicht so aufregend sein wie Verhaftungswellen, Standgerichte und Bürgerkrieg, aber es ist vernünftig und besser für alle. In einer echten Demokratie wie der österreichischen fährt auch nicht eine Mehrheit über die Minderheit einfach drüber, sondern es gibt unveräußerliche Minderheitenrechte, die durch die Verfassung garantiert werden.
In dieser Hinsicht gibt es immer noch viele Missverständnisse. Demokratie bedeutet nicht, dass beispielsweise 51 Prozent der Stimmberechtigten bei einer Volksabstimmung beschließen könnten, in Zukunft würde man alle Rothaarigen erschießen. Das Menschenrecht der Rothaarigen, nicht erschossen zu werden, nur weil sie rothaarig sind, wiegt schwerer als der Wunsch einer knappen oder auch großen Mehrheit. Das ist ein Schutzmechanismus, der mit voller Absicht eingebaut wurde, um zu verhindern, dass mit demokratischen Mitteln diktatorische Maßnahmen in Kraft gesetzt werden. Daher sollte man hellhörig werden, wenn politische Kräfte unsere System der repräsentativen und an den Menschenrechten orientierten Demokratie gegen eines austauschen wollen, in dem über jede Frage eine Volksabstimmung stattfindet. Nicht weil das Volk nicht bestimmen dürfte, wo es lang gehen soll, sondern weil sehr viele wichtige Fragen nicht so einfach mit Ja oder Nein zu entscheiden sind und weil das zu einer Polarisierung führen würde, an deren Ende Zustände wie in der Türkei auch bei uns Einzug halten könnten.
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