So viel Feminismus gab es noch nie. Seit in der Silvesternacht dutzende Frauen vor dem Kölner Bahnhof sexuell bedrängt, gedemütigt und beraubt wurden, sind plötzlich auch diejenigen, die noch vor kurzem das Recht des Mannes aufs Popograpschen verteidigten, voller Mitgefühl mit den Opfern sexueller Gewalt. Weil die mutmaßlichen Täter diesmal keine Provinzdisko-Ausgreifer, keine besoffenen Faschings-Busenanfasser und keine Lehrmädchen missbrauchenden Chefs waren, sondern „Nordafrikaner“. Oder „Araber“. Oder „Syrer“. So genau weiß man das nämlich immer noch nicht. Man weiß auch nicht genau, wie viele Täter es gab und wie viele Opfer. Mehr als eine Woche nach den Vorfällen hat sich die Kölner Polizei nämlich mindestens fünf Mal selber widersprochen und fast jeden Tag eine neue Version erzählt. In der Öffentlichkeit blieb hängen, dass 1000 „fremde“ Männer über deutsche Frauen hergefallen seien. Denn wenn nicht einmal die Polizei mehr zu wissen scheint, was los ist, strickt sich jeder seine eigene Wirklichkeit und die meisten Anhänger findet der, dessen Privatwirklichkeit am dramatischsten klingt. „1000 geile Araber vergewaltigen unschuldige deutsche Mädchen“ klingt fetziger als „ein paar dutzend Verbrecher und Besoffene belästigen und beklauen Frauen“.
Alle Zeitungen und das ganze Internet spekulierten fleißig über Dinge, die keiner genau wusste. Kommentare erschienen, die der Frage nachgingen, ob der Islam schuld sei oder irgendeine nicht näher benannte „nordafrikanische Kultur“. Andere beeilten sich, die Vorkommnisse in Köln mit jenen am Oktoberfest zu vergleichen, ganz nach dem Motto: „Wir sind auch nicht besser, wir haben selber genug Vergewaltiger und Taschendiebe“. Nur wenige sprachen über die Opfer. Opfer sind nicht so interessant wie Täter, eben weil sie zu Opfern gemacht wurden. Bei Tätern kann man lustvoll über Motive und Hintergründe spekulieren, die Opfer sind einfach nur Opfer. Langweilig im Vergleich zu den Tätern. Wir sind eine auf Täter fixierte Gesellschaft. Und genau das ist das wirkliche Problem. Einer Frau, die vergewaltigt wird, ist es nämlich reichlich egal, welche Staatsbürgerschaft ihr Peiniger hat, ob der ein Flüchtling ist oder ein Österreicher in zehnter Generation, ein Schwarzer oder ein Weißer, ein Moslem oder ein Atheist. Eine Frau, die plötzlich von Männern umringt wird, die immer näher heranrücken und dann anfangen, sie anzufassen und auszuziehen, interessiert sich nicht dafür, ob der Mob eine Aufenthaltsgenehmigung hat oder nicht. Sie hat Angst. Todesangst. Wer vergewaltigt oder sexuell bedrängt wird, will auch nicht wissen, ob die Vergewaltiger und Bedränger eine schwere Kindheit hatten, ob sie aus sexuellen oder anderen Motiven handeln. All das zählt für die Opfer nicht. Für die zählen die grausamen Tatsachen. Sie werden sexuell gefoltert und mit ein bisschen Pech ist ihr Leben danach zerstört. Und DAS ist das Schlimme an Vergewaltigung und anderen Formen sexuellen Missbrauchs. Menschen, vor allem weibliche, müssen vor sexueller Gewalt geschützt werden, und es ist völlig unerheblich, von wem diese Gewalt ausgeht. Es gibt für diese Gewalt keine Rechtfertigung und sie ist immer gleich schlimm, ob die Täter nun eine helle oder dunkle Hautfarbe haben.
Natürlich darf und muss man auch darüber reden, wie Männern, die aus Kulturkreisen kommen, in denen Gewalt gegen Frauen teilweise religiös entschuldigt wird, eindeutig klar gemacht wird, dass dergleichen bei uns nicht toleriert wird. Das können wir aber nur dann glaubwürdig machen, wenn wir sexuelle Gewalt generell ernster nehmen und Maßnahmen gegen sie ergreifen. Zum Beispiel bräuchten wir eine bessere Ausbildung der Polizei, denn immer noch werden Frauen, die Vergewaltigungen anzeigen, nicht ernst genommen. Wir brauchen mehr Frauenhäuser und eine bessere Betreuung für Opfer (sexueller) Gewalt. In den Städten muss es mehr sichtbare Polizei geben und mehr Beleuchtung in den Straßen und Gassen. Und in den Schulen sollten Kinder lernen, wie man miteinander gewaltfrei und respektvoll umgeht. Beispielsweise müssen endlich alle lernen, dass ein „Nein“ auch nein bedeutet und dass jeder Mensch das volle Recht hat, über seinen oder ihren Körper selbst zu bestimmen. Das und noch viel mehr wäre wichtig, um Frauen zu stärken und zu schützen. „Ausländer raus“ schreien ist leicht, löst aber kein Problem. So zu tun, als wäre sexuelle Gewalt eine Sache, die erst mit Flüchtlingen oder Migranten ins Land gekommen wäre, ist ebenso grotesk wie der Versuch jener Rechten, die immer gegen Gleichberechtigung und Frauenschutz waren, sich als Feministen aufzuspielen.
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