Wenige Tage vor Weihnachten. Freitagmorgen um halb fünf Uhr früh läutet es bei ihnen plötzlich Sturm. „Aufmachen, Polizei“ schreit jemand. Fäuste hämmern gegen die Wohnungstür. Sie öffnen und 15 Menschen in Uniform drängen herein. Man drückt sie an die Wand und legt ihnen Handschellen an. Eine Frau in Zivilkleidung nimmt ein Stück Papier aus einer Aktentasche und liest Ihnen einen amtlichen Bescheid vor. Ihr Antrag auf Asyl wurde endgültig abgelehnt, ebenso ihr Antrag auf humanitäres Bleiberecht. Als man Sie das Treppenhaus hinunter und aus dem Haus führt, protestiert keiner ihrer Nachbarn. Alle Türen bleiben zu. Draußen verfrachtet man Sie in einen Gefangenentransporter, der Sie ins Gefängnis bringt. Alles fühlt sich unwirklich an, wie in einem Alptraum. Man bugsiert Sie aus dem Wagen und Sie sehen hohe Mauern mit Stacheldraht oben drauf. In der Registrierungsstelle nimmt ein Beamter von anderen Beamten Papiere entgegen, auf denen Ihr Name steht. Dann nimmt man ihnen ihren Gürtel, ihre Schnürsenkel und den Rest ihrer Alltagskleidung ab und gibt ihnen stattdessen ein neues Gewand aus einer Art Papier. Eine Vorsichtsmaßnahme, damit Sie sich nicht umbringen.
Man packt sie an den Oberarmen und führt sie zu einer Tür aus schwerem Metall. Sie werden in eine kleine Zelle geschubst und die Tür fällt hinter Ihnen krachend ins Schloss. Instinktiv greifen Sie nach ihrem Handy, doch das hat man ihnen weggenommen. Sie schauen die kahlen Wände an, das kleine Fenster mit den dicken Eisenstäben, das harte Bett aus Beton und Sie setzen sich hin. Sie haben sich noch nie in ihrem Leben so allein gefühlt. In der Nachbarzelle wimmert eine Frau und schreit dann in einer Sprache, die Sie nicht verstehen. Irgendwo im Zellentrakt brüllt ein Kind vor Angst. Sie fühlen sich unglaublich elend. Womit haben Sie das verdient? Haben Sie nicht alles getan, was man von Ihnen verlangte? Die Sprache des Landes gelernt? Eine neue Ausbildung gemacht, obwohl Sie schon über 40 sind? Schlecht bezahlte und harte Arbeit angenommen, die in diesem Land sonst keiner machen will?
Plötzlich wird ihnen schwindelig, ihr Herz rast, Sie kriegen keine Luft. Sie rufen nach Hilfe. Niemand kommt. Es ist zum Glück kein Herzinfarkt, sondern nur eine Panikattacke. Freitag Mittag öffnet sich eine Klappe ihrer Zellentür und jemand schiebt einen Teller mit Essen hindurch. Sie fragen den Wärter, ob Sie telefonieren dürfen, ob Sie mit jemanden sprechen können. Der Wärter lacht und sagt: „Wochenende, niemand erreichbar“. Weil am Wochenende auch im Abschiebegefängnis nur wenige Beamte anwesend sind, lässt man Sie und alle anderen Gefangenen einfach in den Zellen. Am Montag wird man Sie, vielleicht, herauslassen, aber nur um Sie zum Flughafen zu bringen, von wo aus man Sie in ihre Heimat verfrachten wird.
Heimat! Zuhause ist Krieg. Weil Sie gegen diesen Krieg sind, hat die regierenden Partei sie als „Volksverräter“ und „Deserteur“ verfolgt. Damals vor acht Jahren hat alles so harmlos angefangen. In Ihrem Land wurden Gruppen an die Macht gewählt, die versprachen, die Heimat zu schützen. Gegen wen? Vor allem gegen Menschen anderer Hautfarbe und anderer Religion. Schon sehr bald wurden diese „Schutzmaßnahmen“ ausgeweitet und die Regierenden gingen gegen jeden vor, der politisch anderer Meinung war. Immer mehr Menschen kamen ins Gefängnis, oft unter fadenscheinigen Begründungen. Berichte von entsetzlichen Haftbedingungen machten die Runde, man erzählte von Folter und sogar Mord. In den Ländern, die an ihre alte Heimat angrenzten, wurden ebenfalls radikale Politiker gewählt. Bald stritten diese Länder um Grenzverläufe. Sie lösten den Staatenbund auf, in dem sie zuvor Jahrzehntelang in Frieden gelebt hatten, und spalteten sich in kleine Blöcke auf. Dann geschah das, was Sie und viele anderen für undenkbar gehalten hatten: Es wurde geschossen.
Zum dritten Mal innerhalb von gut 100 Jahren brach in Europa nach dem Zerfall der EU ein großer Krieg aus. Als die ersten Schüsse fielen, packten Sie rasch die nötigsten Sachen und flohen nach Kanada. Dort sitzen Sie jetzt, im Jahr 2026, in einer kleinen Gefängniszelle und warten auf ihre Abschiebung nach Österreich. In Europa, so steht es in ihrem Abschiebebescheid, gäbe es durchaus auch den einen oder anderen Ort, an dem keine Bomben fallen. Außerdem sei Pazifismus kein Asylgrund. Sie starren auf die Risse an der Wand ihrer Zelle. Irgendwo da draußen feiert jemand Weihnachten.
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