Früher war eine Kur nicht nur eine Gelegenheit, gesundheitliche Beschwerden zu lindern, sondern für viele Menschen eine der wenigen Möglichkeiten, mal richtig abzuschalten und dem täglichen Stress ein paar Wochen lang zu entkommen. Vorbei. Statt einer Kur gibt es in Hinkunft die „Gesundheitsvorsorge Aktiv“. Da gibt es keine gemütlichen Massagen mehr, keine langen Moorbäder und schon gar kein geselliges Zusammensein am Abend, sondern zackiges Fitnesstraining. Morgensport, danach Diätfrühstück und dann jagt ein Termin den nächsten. Ganz wie im richtigen Leben. Viele Ärzte und Sozialpolitiker meinen, das sei zwar anstrengender, aber nützlicher, da die Betroffenen mit einem harten Programm besser für den Arbeitsmarkt fit gemacht werden würden. Ein paar wenige andere Ärzte und Sozialpolitiker sagen aber hinter vorgehaltener Hand, der neue Trend zur Radikalkur sei eine Folge der totalen Unterwerfung aller Lebensbereiche unter das Diktat der Wirtschaft.
Das Ende der klassischen Kur sagt viel über unsere Zeit und unsere Werte aus. Der Mensch soll nicht mehr zum Ausspannen kommen, soll nicht mehr zu sich finden. Er soll funktionieren. Wenn er nicht mehr funktioniert, wird er zur Reparatur geschickt. Dort soll er aber ja nicht auf den Gedanken kommen, er hätte jetzt ein paar Tage Ruhe vor dem täglichen Stress. Nein, auch dort wird es in Hinkunft kein Entrinnen mehr geben vor der Hektik, die unser Leben immer umfassender im Griff hat. Immer und überall soll der Mensch merken, dass er nur eine Ware ist, ein Produktionsmittel.
In ein paar Jahren werden wir wieder davon lesen, dass die Zahl der Burnout-Fälle gestiegen ist. Und alle werden sie wieder so tun, als sei das total rätselhaft und unerklärlich. Derweil weiten die Politiker die tägliche Arbeitszeit aus und die Bosse legen uns an die elektronische Leine, damit wir rund um die Uhr erreichbar sind. Fitness und Belastbarkeit gehen über alles. Wer nicht mithalten kann, hat halt Pech gehabt. In diesem Klima des totalen Zugriffs der Wirtschaft auf den Menschen wird es bald soweit sein, dass ein gemütlicher Abend im Biergarten zum Akt der Rebellion wird. Erwachsene Menschen werden heimlich Zigaretten rauchen und sich dabei vorkommen wie wilde Teenager. Wer nicht durchtrainiert ist und keinen Waschbrettbauch hat, wird als reicher Mensch zu erkennen sein, der das Gestrampel im Hamsterrad nicht nötig hat - wie vor 150 Jahren, als die Arbeiterbewegung mit Parolen wie „wir leben nicht, um zu arbeiten, sondern wir arbeiten, um zu leben“ für Arbeitszeitverkürzung, Urlaub und Pension kämpfte. Wie es aussieht, werden wir diese Kämpfe erneut führen müssen. Oder wir führen sie halt nicht und fügen uns in das uns zugedachte Los, nur mehr Menschenmaterial zu sein statt Menschen, nur mehr Kosten-Nutzen-Faktoren statt echte Bürger.
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