Ich schubse meine Tochter auf der Schaukel an. „Höher, bis zum Himmel hinauf!“ ruft sie und lacht. Die Sonne scheint, es ist ein warmer Tag. Ein älteres Ehepaar spaziert an uns vorbei und beobachtet uns, die Dame lächelt und sagt: „Da geht einem das Herz auf, wenn man die Kinder wieder am Spielplatz sieht!“
Ich verstehe was sie meint, mir geht es ähnlich: Die „Corona Ferien“ waren alles, nur keine Ferien für uns.
Wir sind eine 4 köpfige Klagenfurter Familie. Vater, Mutter, 2 Kinder, Junge und Mädchen. Ein Volksschulkind und ein Kleinkind bei der Tagesmutter, beide Eltern berufstätig in systemrelevanten Berufen. So weit, so normal. Bereits seit Anfang März bereitet uns Corona Kopfschmerzen, seit es die Gerüchte gab, dass wohl bald die Schulen schließen werden. Besonders schwierig war die Unsicherheit: Werden die Schulen schließen? Was passiert dann mit der Kinderbetreuung? Wie sollen wir arbeiten? Wie das Schulkind unterrichten? Eines Morgens sagte mir die Tagesmutter, sie würde ab Montag erstmal schließen, am Nachmittag kam die Entwarnung: Sie schließe doch nicht. Am nächsten Tag hieß es mein Mann würde jetzt durch die Krise in Vollzeit arbeiten müssen (wir arbeiten beide in Teilzeit um Familie und Beruf besser und gerechter aufteilen zu können), auch hier gab es am Nachmittag des selben Tages wieder Entwarnung, aber dafür einen komplett neuen umgekrempelten Dienstplan, der nicht mehr mit den bezahlten Betreuungstagen übereinstimmte.
Familienleben und Arbeit miteinander zu vereinbaren ist vor allem eines: Planung. Nur das ging plötzlich nicht mehr, nichts war mehr gewiss.
Meine Kinder gingen in die Notbetreuung in der Schule und bei der Tagesmutter. Mein Großer erzählte, dass außer ihm noch 3 andere Kinder in der Schule waren, im Hort war außer ihm nur noch ein Kind da. Als die (junge) Oma die ihn immer nachmittags vom Hort abholt, dann von zu Hause aus arbeiten musste, bot sie an, dass er direkt zu ihr kann. So vermieden wir zusätzliche Kontakte.
Mein jüngeres Kind, die 3 Jährige, ging weiter zur Tagesmutter. Wochenlang, als einziges Kind dort. Jeden Abend sagt sie mir beim ins Bett bringen, dass sie traurig ist, dass sie ihre Freunde vermisst. Morgens fragt sie jeden Tag, ob heute auch andere Kinder dort sein werden. „Ich kann ja nicht immer alleine sein!“ sagt sie, schmerzhaft treffend. Ja, du kannst nicht immer alleine sein! Die Tagesmutter gibt sich sehr viel Mühe und ist ein Schatz, aber sie kann nicht den fehlenden Kontakt zu anderen Kindern kompensieren.
Das Homeschooling ist eine Katastrophe. An den Tagen an denen ich mit den Kindern zu Hause bin, arbeiten wir mit einem Stundenplan: Nicht zu straff, ausschlafen und gemütlich frühstücken ist erlaubt, aber trotzdem genug Struktur vorgebend, dass wir uns nicht im Nichts tun verlieren. Mein Sohn ist gereizt und unausgeglichen. Er bricht bei jeder neuen Aufgabe in Tränen aus, und sitzt eine Ewigkeit an Aufgaben, die er unter anderen Umständen in einem Bruchteil der Zeit schaffen könnte. Die 3 Jährige ist begeistert dabei beim „Schule spielen“ und ruft enthusiastisch gefühlt alle paar Sekunden „Frau Lehrerin!“ um die nächste Linie die sie gestempelt hat stolz zu präsentieren, dann schnappt sie sich den Stift vom Großen, was in einem riesen Streit endet, aber ganz sicher nicht in einer sauber erledigten Aufgabe.
Der Große wird immer stiller. Ihm geht es gut sagt er. Es stimmt offensichtlich nicht: Er ist reizbar und weint schnell, er zieht sich zurück. Er möchte in Ruhe gelassen werden. Täglich mit genauso viel Motivationsarbeit wie bei den Schularbeiten überrede ich ihn dazu etwas mit uns nach draußen zu gehen. Vorbei an gesperrten Spielplätzen, an denen immer wieder trotzdem Leute zu sehen sind. „Mama schau, die Kinder dort schaukeln aber ja auch!“ Ich weiß, und es ärgert mich tierisch. Ich verstehe diese Leute, die weiterhin mit ihren Kindern an die Spielplätze gehen, aber es ärgert mich dennoch. Es erschwert die Einhaltung des Verbotes nur noch mehr, wenn die Kinder ständig Leute vor der Nase haben, die das Verbot ignorieren.
„Kinder, ausweichen, da kommen Leute!“ Gut möglich, dass meine Wahrnehmung nicht der Realität entspricht, aber gefühlt müssen ständig meine Kinder ausweichen, Erwachsene selbst achten sehr häufig nicht darauf gut Abstand zu halten.
„Mama, werde ich dieses Jahr nochmal in die Schule gehen?“ Ich weiß es nicht. Die Politik braucht enorm lange Zeit um Entscheidungen die Kinder betreffen zu fällen. Ich weiß, dass es auch für unsere Politiker eine Ausnahmesituation ist, und dass es einfach enorm viel zu bedenken gibt. Aber es macht mich auch wütend. Kinder sind das höchste Gut unserer Gesellschaft, unsere Zukunft, das wertvollste. Gleichzeitig war unsere Gesellschaft schon vor Corona eine Kinderfeindliche. Kinder sollen leise sein und ruhig. Nicht stören. Am besten, sie benehmen sich so Erwachsen wie möglich. Corona hat ihnen auch noch den Stempel der Virenschleuder aufgedrückt, die man möglichst von allem fernhält. Keine Verwandschaft besuchen, keine Freunde, keine Schule, keine Nachmittage am Spielplatz, nicht mal mehr Einkaufen gehen. Daheim sein, Spazieren gehen oder eine Runde mit dem Rad drehen.
Machte die soziale Isolation schon viel mit meinen Kindern, was machte sie dann erst mit den ganzen Kindern aus Problemfamilien? Was ist mit Kindern für die die Schule ein Schutzraum war vor der Gewalt, die sie zu Hause erlebten? Kinder die sich nach der Schule zu Freunden flüchteten, damit sie möglichst wenig zu Hause sind? Die haben jetzt halt einfach Pech gehabt. 24 Stunden am Tag mit dem eigenem Täter zusammengesperrt, alle eh viel gereizter und angespannter aufgrund der Isolation. Die Entscheidungen wie es mit den Schulen weiter geht, ist keine Kleinigkeit und sie haben zu lange auf sich warten lassen.
Mein Sohn entwickelt immer mehr Ängste. Es wird so schlimm, dass er nicht mehr nach draußen gehen mag. Mein Partner ruft beim Arzt an. Der sagt, nachdem mein Partner ihm schildert, dass wir glauben unser Kind entwickle eine Angststörung: „Bitte erst kommen, wenn die Ausgangsbeschränkungen gelockert werden. Es eilt ja nicht.“
Das Homeschooling geht an manchen Tagen ganz gut, an anderen bin ich froh, wenn wir es schaffen eine Aufgabe von 5 zu erledigen. Bei der Oma wird zwar alles erledigt, aber oft falsch oder unvollständig und daheim müssen wir uns nochmal dazu setzen.
Meine Tochter weiß, dass sie im Mai Geburtstag haben wird. Sie „schreibt“ täglich Einladungskarten an ihre Freunde, die Location hat sie schon lange ausgesucht, sie weiß genau wer alles kommen soll. Es sollte ihre erste richtige Kindergeburtstagsparty werden, es ist auch der erste Geburtstag auf den sie bereits hin fiebert. Ich bereite sie vorsichtig darauf vor, dass wir vielleicht keine Kindergeburtstagsparty feiern können.
Wenn sie draußen rennt oder mit dem Laufrad fährt, dann spielt sie, dass ihre Freunde neben ihr her laufen. Sie macht Wettrennen mit ihren Freunden, die nicht da sind und die sie seit Wochen nicht gesehen hat.
Drinnen fällt uns die Decke auf den Kopf. Noch nie habe ich mir so sehr einen Garten gewünscht wie in Corona Zeiten. Wir basteln und schneiden und kleben, wir backen Kuchen, wir stellen Salzteigkunstwerke her, wir Sammeln Naturmaterialien zum Basteln, wir schauen uns Filme an und spielen Brettspiele, wir lesen Bücher.
Morgens, wenn ich am Weg zur Arbeit erst das eine Kind, und dann das andere Kind abliefere, drehe ich das Radio ab, wenn die Corona Erkrankungen durchgegeben werden, weil ich sehe wie der Große die Ohren spitzt. Ich möchte nicht, dass er sich noch mehr damit befasst. Er will es aber ganz genau wissen und fragt ständig danach: „Mama wie viele in Österreich, wie viele in Kärnten, wie viele in Klagenfurt? Aus welchem Stadtteil sind die aus Klagenfurt?“ Ich versuche positive Bilder zu zeichnen, erzähle ihm wie viele schon wieder gesund sind. Es hilft nicht. Es ist die soziale Isolation die an ihm nagt. Und die kann ich nicht kompensieren.
Mein Partner holt mit dem Bus am Nachmittag unsere Tochter von der Tagesmutter ab, er braucht fast zwei Stunden für die Strecke, da so viele Busfahrten wegen Corona gestrichen wurden. Auto haben wir jedoch nur eines, und das brauche als Pendlerin ich.
Der Mai kommt. Die Oma muss zurück ins Büro. Mein Sohn geht wieder in die schulische Betreuung. Ich bin unendlich froh darüber. Auch wenn er mit Maske ausgestattet hin muss, bei einer fremden Lehrerin in einer anderen Klasse, er kommt wieder unter Kinder. Wie gut ihm dieses kleine Stückchen Normalität tut, ist für die ganze Familie spürbar. Und das nächste Stückchen Normalität kündigt sich an: Mit Mitte Mai soll wieder Unterricht stattfinden.
Meine Tochter ist das glücklichste Kind an dem Tag an dem ich von der Arbeit heimkomme und sie mir strahlend erzählt, dass heute wieder Kinder bei der Tagesmutter waren.
Am wertvollsten für uns ist die Möglichkeit wieder andere Menschen zu treffen und wieder auf Spielplätze zu gehen. Meine Tochter dreht um und rennt schnell in meine Richtung weil eine Frau ihr entgegen kommt. „Menschen Mama!“ ruft sie erschrocken in ihrem sofortigen Versuch Abstand zu halten. Beim Spielplatz erzählt mir eine Mutter, dass ihre Tochter beim Hörspiel hören ganz irritiert war, weil Freunde zusammen gekommen sind und keinen Abstand gehalten haben.
Ich habe das Gefühl, länger hätte das nicht andauern dürfen. Noch sind die Schäden in meiner Familie und in den meisten anderen reversibel. Auch mein Sohn wirkt fast wieder wie früher, wenn sein Freund anläutet und fragt ob er hinaus spielen kommen mag.
Aber was ist mit sozial schwachen Familien? Kinder deren Eltern ihnen bei keiner Schulaufgabe helfen konnten, weil ihre Eltern Analphabeten sind, weil ihre Eltern kein Deutsch sprechen und nicht helfen konnten, weil diese Schüler gar nicht erst erreichbar waren, weil sie keinen Computer oder kein Internet haben? Was ist mit Kindern aus gewalttätigen Familien? Ich glaube hier haben die Spuren der Maßnahmen vielleicht so tiefe Gräben hinterlassen, dass diese nicht mehr so schnell verschwinden.
Der Geburtstag meiner Tochter ist vorbei. Die Kindergeburtstagsparty konnten wir noch nicht feiern, da die Betreiber der Location noch keine Erlaubnis haben aufzumachen. „Aber mit Ende Mai sind doch wieder Veranstaltungen mit 100 Personen erlaubt!“ ist mein Einwand. „Das kann sein, wir haben noch keine Information erhalten. Wir haben noch keine Erlaubnis wieder Kinderpartys ausrichten zu dürfen.
Ja, eine Kleinigkeit. Aber auch die Fortsetzung dessen, was wir schon zuvor gesehen haben: An die Kinder wird definitiv nirgends als erstes gedacht, eher im Gegenteil.