Zum Tag der Gesundheit (7.4.) fordert SOS-Kinderdorf umfassende Maßnahmen wie den Aufbau einer Übergangspsychiatrie, flächendeckende Therapie auf Krankenschein und die Förderung digitaler Therapieangebote.
„Die psychische Verfassung von Jugendlichen ist dramatisch. Immer mehr junge Menschen leiden an ernsten psychischen Erkrankungen. Sie brauchen Hilfe – rasch, professionell und leistbar“, so Christian Moser, Geschäftsführer von SOS-Kinderdorf.
„Gerade bei jungen Menschen ist es wichtig, sofort zu reagieren, wenn sie therapeutische oder psychiatrische Unterstützung benötigen“, so Christoph Schneidergruber, Leiter des Hermann-Gmeiner-Zentrums vom SOS-Kinderdorf Kärnten, Ambulatorium für Neurologie und Psychiatrie des Kindes und Jugendalters. Derzeit fehlt in Österreich jedoch die nötige Infrastruktur dazu. Die Kinder- und Jugendpsychiatrie hinkt weit hinter dem vorgesehenen Versorgungsplan. Es gibt zu wenig Fachärztepersonal, zu wenig Ausbildungsplätze in der Kinder-und Jugendpsychiatrie.
„Ich denke, es beginnt schon bei den Aufnahmetests zum Medizinstudium bis hin zu den Inhalten im Medizinstudium und der Sozialisierung der StudentInnen. Wir sollten mehr Augenmerk auf soziale und emotionale Kompetenzen und Fähigkeiten legen“, räumt Schneidergruber ein.
Herz statt Hürde – Wenn es um die Psyche geht!
Insgesamt muss auch die Hürde besser genommen werden, wenn es um die psychische Fitness und Gesundheit unserer Jugendlichen geht. „Wir müssen zu den Jugendlichen, nicht diese zu uns. Es braucht jugendliche Zugänge. Was wir brauchen, sind junge, gut ausgebildete Therapeuten und Therapeutinnen, medial versiert, flexibel in der Arbeitszeit, kommunikativ. Menschen, die neugierig, aufsuchend, kreativ und beherzt sind, in der Begegnung und Umsetzung von Therapiesettings“. Der politische Willen und die entsprechenden Entscheidungsträger sind jetzt gefragt. „Hier braucht es schnelles und entschlossenes Handeln, damit junge Menschen eine gesunde Zukunft haben. Derzeit wird der Bedarf an psychosozialer Unterstützung für Kinder und Jugendliche fast täglich mit neuen Studien untermauert. Wann, wenn nicht jetzt, sollten wir dieses Thema energisch angehen?“
Therapie auf Krankenschein
Bereits vor der Corona-Krise fehlten rund 70.000 kassenfinanzierte Therapieplätze für Kinder und Jugendliche. Die Auswirkungen der Pandemie haben den Versorgungsnotstand weiter verschärft. „Es kann nicht sein, dass Jugendliche bzw. ihre Familien therapeutische Behandlungen, die nicht billig sind, zum überwiegenden Teil selbst finanzieren müssen. Das schließt große Teile der Bevölkerung schlichtweg aus. Und wir wissen, dass gerade Jugendliche aus wirtschaftlich schlechter gestellten Familien derzeit besonders belastet sind. Sie brauchen Unterstützung und die muss leistbar sein“, so Moser.
Teletherapie ist unverzichtbar
Die benötigte Hilfe müsse nicht nur leistbar, sondern auch erreichbar sein. Gerade in ländlichen Regionen ist das oft schwierig. Regelmäßige Therapien sind bei langen Anfahrtswegen kaum zu schaffen, noch dazu in ohnehin belasteten Situationen. SOS-Kinderdorf fordert darum innovative und kreative Ansätze wie etwa Krisenbehandlung zuhause oder digitale Therapieangebote. „Seit dem ersten Lockdown hat sich in unseren Ambulatorien für Kinder- und Jugendpsychiatrie gezeigt, dass Therapien über Telefon oder Videochat gerade von Jugendlichen sehr gut angenommen werden. Teletherapie ist mittlerweile unverzichtbar. Es schafft Niederschwelligkeit, holt Jugendliche besser ab, ermöglicht auf deren "Kanälen" zu kommunizieren. Es ersetzt nicht den persönlichen Kontakt, aber ich sehe es unbedingt als notwendige Ergänzung. Seit Corona haben alle Therapeutinnen im HGZ Villach bereits ein I-Phone erhalten. Festnetztelefone sind Geschichte“ so Schneidergruber. SOS-Kinderdorf sieht in der Teletherapie die Chance, einen unterversorgten Gesundheitsbereich rasch zu entlasten, insbesondere am Land. „Solche neuen Konzepte können helfen, lange Wartezeiten zu überbrücken, akute Krankheitssymptome schneller zu identifizieren und umgehend Maßnahmen zu setzen. Jeder Tag, den ein junger Mensch alleine unter einer psychischen Krankheit leidet, ohne Hilfe zu bekommen, ist einer zu viel“, so Schneidergruber.
Übergangspsychiatrie für Jugendliche
Damit junge Menschen genau die Behandlung bekommen, die sie brauchen, müssen die richtigen Angebote geschaffen werden. Derzeit unterscheidet das österreichische Gesundheitssystem zwischen Kindern bis 18 Jahren und Erwachsenen. In der Realität fühlt sich kaum jemand schlagartig mit dem 18. Geburtstag erwachsen. „Der Wechsel zur Erwachsenenpsychiatrie ist für viele junge Menschen ein schwieriger Schritt. Ein 17-jähriger gehört auf keine "Kinderstation", ein reifeverzögerter 18-jähriger verliert sich auf einer Erwachsenenpsychiatrie“, erläutert Schneidergruber. Positiverweise konnten in Kärnten im ambulanten Bereich bereits vereinzelt Übergänge geschafft und auch finanziert werden. Österreichweit schlägt SOS-Kinderdorf vor, 15- bis 25-Jährige am Weg zum Erwachsenwerden mit Überganspsychiatrie zu begleiten, wie es etwa bereits in Deutschland erfolgreich geschieht.
Auch die Schnittstellen unterschiedlicher Betreuung müssen besser koordiniert werden. Gerade wenn junge Menschen schwer belastet sind, ist es wichtig, dass die Versorgung reibungslos funktioniert. Dazu müssen alle Angebote interdisziplinär agieren.
„Damit junge Menschen die Chance auf ein gesundes und selbstbestimmtes Leben haben, müssen dringend entscheidende Schritte gesetzt werden. Seelisches Leid ist nicht so offensichtlich wie ein gebrochener Arm. Wir sind es Jugendlichen schuldig, ihre psychischen Gebrechen aber ebenso ernst zu nehmen und alles dafür zu tun, damit es ihnen rasch bessergeht“, so Moser.