Ich bin mit Wertvorstellungen aufgewachsen, von denen ich dachte, sie seinen nichts Besonderes, sondern demokratischer Konsens: Nicht auf Schwächere losgehen; niemanden treten, der schon am Boden liegt; helfen, wenn einer Hilfe braucht; Menschen nicht nach der Hautfarbe oder der Religion beurteilen, sondern nach dem, was sie als einzelne Menschen machen; Männer sind nicht besser als Frauen und Frauen nicht besser als Männer, sondern sie sind gleich gut; Krieg ist schlecht; die Todesstrafe ist falsch, weil dann der Staat mordet und somit wir alle zu Mördern werden; was andere Leute in ihren Betten treiben, geht mich und den Staat nichts an, es sei denn, es geht um Kindesmissbrauch oder Vergewaltigung; Antisemitismus ist verrückt und böse; die repräsentative Demokratie mit ihren Parteien, Gewerkschaften, Bünden und Kammern und ihrem ewigen Streit ist nicht perfekt, aber allemal besser als eine Diktatur; wer reich ist, soll steuerlich ein bisschen mehr zur Allgemeinheit beitragen als der, der arm ist; Umweltschutz ist wichtig und der Klimawandel ist real und gefährlich; jeder soll seine Meinung sagen dürfen, aber gegen Fanatiker, die die Demokratie abschaffen wollen, darf und muss man sich wehren.
Das alles und noch mehr hielt ich lange für keine sonderlich radikale Haltung. Seit einigen Jahren jedoch kriege ich, wenn ich mich entsprechend äußere, immer öfter zu hören, das sei ja „links“ oder gar „linksextrem“. Wenn aber Positionen wie die oben beschriebenen, die jahrzehntelang auch von Konservativen und sogar „Rechten“ vertreten wurden, plötzlich als ganz arg links gelten, dann hat sich nicht der Inhalt dieser Positionen verändert, sondern die Gesellschaft. Wenn Ansichten und Haltungen, die vor gar nicht so langer Zeit noch christ- und sozialdemokratischer Mainstream waren, nun als extrem links gelten, bedeutet das, dass es einen massiven Rechtsrutsch gegeben hat. Und wirklich sind rechtsextreme Strömungen und Kräfte auf der ganzen Welt erstarkt.
In Europa sind überall starke Rechtsparteien entstanden, die vor allem bei sogenannten „Wutbürgern“ reüssieren, die man aber lieber als „Hassbürger“ bezeichnen sollte, denn während Wut eine emotionale Reaktion auf reales oder empfundenes Unrecht ist, richtet sich Hass gegen Menschen. In den USA marschieren diese Hassbürger mit Hakenkreuzfahnen und der Präsident schafft es nicht, sich eindeutig von denen zu distanzieren. Unter Muslimen ist mit dem extremistischen Islamismus eine eigene Bewegung für solche Hassbürger entstanden. All diesen Strömungen ist gemein, dass sie die Demokratie als friedlichen Interessenausgleich verachten, dass sie komplett intolerant sind und dass sie Menschen, die sie zu Feinden erklären, weh tun oder diese gar vernichten wollen. Und alle diese Bewegungen eint, dass sie scheinbar einfache Antworten auf komplizierte Fragen anbieten. Du hast Angst vor der Zukunft? Einfach alle Ausländer raus werfen! Die moderne Welt überfordert dich? Einfach alle „Ungläubigen“ umbringen! Du verstehst nicht, warum wir Billiarden in die Bankenrettung stecken, aber bei Pensionistinnen und Arbeitslosen „sparen“ sollen? Die Juden sind schuld! Du kriegst keine Frau? Die „Genderer“ haben alle lesbisch gemacht! Du befürchtest, ein Ausländer könnte dir den Job wegnehmen? Wir bauen eine hohe Mauer!
Das alles ist natürlich totaler Unsinn, aber wenn die etablierte Politik zu faul ist, komplexe Sachverhalte so zu erklären, dass man sie auch verstehen kann und wenn man Menschen, die sich aus welchem Grund auch immer unsicher und verängstigt fühlen, mit ihren Ängsten und Sorgen allein lässt, dann schlägt halt die Stunde der Vereinfacher und der harten Männer mit ihren vermeintlich simplen Lösungen. Und was gestern noch allgemein akzeptierte Vernunft war, ist plötzlich „linksextrem“.
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